Sebastian Risse ist der technische Leiter des KTM-MotoGP-Projekts. Wenn die RC16 nächstes Jahr in der Startaufstellung der weltweit schnellsten Prototypen-Bikes steht, hat er zuvor die wichtigen Entscheidungen getroffen, die zur Entstehung des Bikes beigetragen haben. Überhaupt kein Druck also …
KTM bewegt und entwickelt sich mit unglaublicher Geschwindigkeit. Wenn eine Entscheidung getroffen wurde, wird das Ziel mit Vollgas verfolgt. Sebastian Risse ist diese Herangehensweise, die Ambitionen im Motorsport und der Wunsch, den fast aus allen Nähten platzenden Trophäenschrank (262 Weltmeisterschaftstitel, Tendenz steigend) weiter zu füllen, nicht fremd.
Sebastian Risse (GER) 2015
Als absoluter Zweirad-Freak, absolvierte der in Deutschland geborene Risse ein Studium als Maschinenbauingenieur mit dem Fokus auf Motorrad-Fahrdynamik an der RWTH Aachen.
2008, dem letzten Jahr seines Studiums, nutze er die Möglichkeit, im Rahmen eines Praktikums bei KTM zu arbeiten; er schrieb seine Masterarbeit in der Abteilung „Grundlagen Fahrwerk” und arbeitete als Ingenieur in anderen F&E-Abteilungen mit.
Nach Abschluss seines Studiums wurde Risse Teamchef und Fahrwerksanalyst des in der IDM erfolgreichen KTM-Superbike-Projekts. Da KTM keine Zukunft für große, vollverkleidete Sportmotorräder für den Straßeneinsatz sah, wurde ein Großteil der Mitarbeiter des RC8 R-Superbike-Projekts auf eine neue Mission angesetzt: KTMs Rückkehr in den GP-Sport, 2012 zunächst in die neugeschaffene Moto3-Klasse. Sebastian leitete das Projekt, das mehrere Fahrer- und Konstrukteursweltmeistertitel eingefahren hat, inklusive einer bisher unerreichten Siegesserie in der Saison 2013.
Mit gerade einmal 33 Jahren und acht Jahren Erfahrung bei KTM, leitet Sebastian nun alle KTM-Road-Racing-Aktivitäten und ist technischer Gesamtverantwortlicher für das MotoGP-Projekt. Der KTM BLOG traf ihn am Red Bull Ring, dem ersten öffentlichen Auftritt der KTM RC16 beim Österreich-GP.
Sebastian, bitte erkläre uns kurz deine Aufgaben. „Ich kümmere mich um alle KTM-Road-Racing-Aktivitäten. Im Moment ist MotoGP natürlich das größte Projekt, das wir im Road-Racing-Bereich haben und hier liegt ganz klar mein Fokus. Als wir mit dem MotoGP-Projekt anfingen, mussten wir zunächst das Moto3-Team personell verstärken. Es sollte unabhängiger arbeiten können, so dass ich mich etwas aus dem Tagesgeschäft zurückziehen konnte. Die Suche nach neuen Mitarbeitern nimmt einige Zeit in Anspruch, genauso wie der Aufbau einer Infrastruktur für dieses umfangreiche MotoGP-Projekt. Wie du siehst, ist dieser Prozess fast abgeschlossen und wir haben mit unserem Bike Tests auf verschiedenen Strecken absolviert. Jetzt sind wir an einem Punkt, an dem wir ausschließlich Entwicklungs- und Abstimmungsarbeiten leisten; das ist es, worauf ich mich hauptsächlich konzentriere.“
Wie baut man aus dem Nichts ein MotoGP-Motorrad? „Ein wichtiger Aspekt ist, die in verschiedenen Projekten – dem Moto3-Prototyp, dem RC8 R-Superbike, dem alten 990ccm-MotoGP-Motor (2005) – gewonnene Erfahrung zu nutzen und sie für die RC16 auf die bestmögliche Art und Weise zu bündeln. Wenn du aus dem Nichts beginnst, musst du die richtigen Prioritäten bei technischen Aspekten setzen, bevor du überhaupt auf die Rennstrecke gehen kannst. Es gibt so viele Dinge zu bedenken und alles muss auf perfekte Weise zusammenpassen. Um herauszufinden, ob etwas eine Verbesserung bewirkt, testet man normalerweise auf der Rennstrecke. Der Beweis auf der Strecke ist für mich der einzige Weg um sicherzustellen, dass wir in die richtige Richtung arbeiten. Natürlich war das in der ersten Phase mit der RC16 nicht möglich, denn wir hatten kein Bike, das wir hätten auf die Rennstrecke bringen können! Also muss man das Problem anders lösen, indem man sich zur Orientierung Bezugsgrößen sucht. Man testet und versucht zu verstehen, warum andere Hersteller dies oder das getan haben. Es geht nicht darum, von anderen abzuschauen, sondern darum, die Gründe für ihr Handeln zu verstehen. Sobald wir dieses Verständnis hatten, mussten wir unseren eigenen Weg finden, natürlich auf KTM-Art.“
Sebastian Risse (GER), Alex Hofmann (GER) & Pit Beirer (GER) Spielberg (AUT) 2015
Ist in dem neuen Projekt noch etwas vom originalen 990ccm-KTM-MotoGP-Motor aus der Saison 2005 zu finden? „Sicher. Ein gutes Beispiel ist der pneumatische Ventiltrieb. Dieses System nutzen wir in keiner anderen Klasse. Das Wissen, das dieses System bereits vor zehn Jahren gut funktioniert hat, hat viele Zweifel beseitigt. Wir wussten genau, welche Probleme wir in der Vergangenheit hatten; diesmal wollten wir es besser machen und die gleichen Fehler auf keinen Fall wiederholen. Wenn man bedenkt, wie sich der Motorsport und die Technologie in den letzten zehn Jahren weiterentwickelt hat, bekommt man eine Idee davon, was dieser Motor wahrscheinlich hätte leisten können. Aber wir schauen nach vorne. Der 1000ccm-Motor ist von Grund auf neu. Wir nutzen das Wissen und die Erfahrung, aber nicht die gleichen Teile!“
Stahlgitterrohrrahmen gab es in der MotoGP nicht mehr seit Ducati diese Konstruktion am Saisonende 2008 aufgab. Alle anderen setzen in dieser Klasse auf Aluminium; warum schwimmt KTM gegen den Strom? „Bisher haben wir bei jedem KTM-Projekt mit einem Stahlgitterrohrrahmen gearbeitet. Dadurch haben wir viel Erfahrung gesammelt: wie man ihn herstellt, am besten mit ihm umgeht und ihn z.B. anhand von gesammelten Daten analysiert. Wir könnten natürlich wie alle anderen in der MotoGP Aluminium einsetzen, aber man muss verstehen, warum sie dieses Design nutzen und es dann an die eigenen Bedürfnisse anpassen. Wir wissen bereits, wie sich Stahl verhält, auch wenn wir die Bedingungen – Leistung, Griplevel uns so weiter – noch nicht genau kennen. Wenn wir uns für Aluminium entschieden hätten, müssten wir wieder bei Null beginnen.“
KTM RC16 Spielberg (AUT) 2016
Die Entwicklung vom Entwurf auf einem Blatt Papier hin zu einem fahrfertigen Bike verlief in einer unglaublich kurzen Zeit. Du musst stolz sein. „Natürlich! Beim Rollout am Red Bull Ring im November 2015 war jeder irgendwie überwältigt. Nicht nur, dass wir alles im Zeitplan geschafft haben; die RC16 stand vor uns und funktionierte zuverlässig. Die ersten Tests liefen gut – die mechanische Zuverlässigkeit war ein positiver Aspekt, der es uns erlaubt hat, viele Runden zu drehen und Daten zu sammeln. Bei den ersten Tests in diesem Jahr hatten wir Pech mit den Wetterbedingungen, dadurch haben wir viel Zeit verloren und die Liste der zu testenden Teile wurde immer länger, genauso wie die Gesichter im Team. Wir hatten einfach nie das Glück, unter Idealbedingungen testen zu können. Aber wir haben – sozusagen – in die Spur zurückgefunden, haben Vertrauen aufgebaut und ein Verständnis für das Team und das Bike entwickelt. Das Wetterpech war insofern positiv, als dass es für einen Fahrer wichtig ist zu verstehen, wie sich das Bike unter verschiedenen Bedingungen anfühlt. Jeder einzelne Entwicklungsschritt war notwendig.“
Was ist die Idee hinter dem Wildcard-Einsatz beim letzten Saisonrennen in Valencia: ein weiterer Test oder fahrt ihr um Punkte? „Wir nennen es nicht Rennen 1, sondern Rennen 0 für die RC16. Es ist ein erweiterter Test; nicht nur, was die Technik angeht. Die Abläufe bei einem Rennteam gehen über die technischen Aspekte hinaus und es gibt Dinge, die man bei einem Test nicht unter realen (Renn-) Bedingungen testen kann. Es ist also der erste richtige Test des Teams. Wenn Ende November in Valencia die Ampel ausgeht, werden wir sehen, wie gut wir gearbeitet haben und wie gut das Team vorbereitet ist. Unter Rennbedingungen zu arbeiten, ist die erste wirkliche Bewährungsprobe.“
Mika Kallio (FIN) KTM RC16 Aragón (ESP) 2016
Inwiefern werden KTM-Kunden vom MotoGP-Einstieg profitieren? „Ich denke, das hängt vom Einzelfall ab. Mit einer gewissen Distanz betrachtet, geht es wahrscheinlich in erster Linie um das Vertrauen, das der Kunde in KTM gewinnt. Obwohl wir nie ‘richtig’ in der großen Klasse angetreten sind, verfügen wir über viel mehr Wissen, Know-how und Erfahrung im Road Racing – Moto3, Red Bull MotoGP Rookies, 125ccm und 250ccm – als viele Leute vielleicht denken. Aber um der Öffentlichkeit unsere Qualifikationen und technischen Fähigkeiten auf der Rennstrecke zu beweisen, müssen wir in der Königsklasse starten.“
Was erwartest du 2017 von der RC16? „Nun, vor etwas mehr als einem Jahr existierte dieses Bike nur auf dem Papier. Die MotoGP ist eine Klasse, in der jeder großartige Leistungen zeigt. Ich habe großen Respekt vor allen Herstellern und Fahrern, die hier vertreten sind. Natürlich steckt in allen Bikes mehr Entwicklungszeit und Erfahrung als in unserem. Jedes Bike oder jeden Fahrer, den wir schlagen können, ist also ein Bonus und ein Erfolg. Auf diese Herausforderung freuen wir uns. Wieviel wir im ersten Jahr erreichen können, werden wir sehen.”
Fotos: KTM
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